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Der Kampf gegen den Drachen

LIZA ULITZKA, 20. April 2022,1 Kommentar,PDF

Scht-Scht-Scht – „Ain’t no sunshine when she’s gone“ – Scht-Scht-Scht. Saverio Tassi ist spät dran. „It’s not warm when she’s away“ – Scht-Scht-Scht. Er streift sich schnell seine Tanzschuhe über, wird herzlich von einer fülligen Dame in engem Schwarz begrüßt und reiht sich mit ihr in die Tanzenden ein. Der schmale, groß gewachsene Gymnasiallehrer trägt ausgewaschene Bluejeans. Der Gürtel umwickelt eng seine mager gewordenen Hüften. Saverio bemüht sich seine üppige Tanzpartnerin möglichst grazil über den staubigen Fliesenboden gleiten zu lassen. Er ist noch nicht so recht im Rhythmus. „Aint no sunshine when she’s gone“ tönt es aus dem Lautsprecher, der auf einem Klapptisch an einer der dicken Säulen gelehnt steht. Wenn schon illegal, dann mit der besten Akustik. Es ist der erste Tangoabend für Saverio Tassi und seine Freunde unter freiem Himmel. Ab heute werden sie sich wieder regelmäßig im Säulengang der Mailänder Börse treffen.

Der Fliesenboden, von dem das wischende Geräusch ausgeht, ist ideal für die fließenden Bewegungen, die der Tango Argentino erfordert. Weil hier niemand wohnt außer dem Geld stört auch die Musik nicht. Erlaubt ist das Alles nicht. „Die Polizei war heute schon hier“, erzählt Stefano der Organisator. „Sie haben nur geschaut und sind dann weitergefahren“, fährt er fort. „We live in Italy“, fügt er nonchalant hinzu. Den „Grünen Pass“ hätten sie nicht verlangt berichtet er auf Nachfrage. Auch wenn es niemand so ernst nimmt mit den Gesetzen in Italien, seit der Corona-Pandemie geht ohne den „Grünen Pass“ eigentlich nichts mehr in dem Land. Dass die Polizei beim illegalen Tangoabend zwei Augen zudrückt hat wohl auch damit zu tun, dass es keine Protestaktion gegen den „Grünen Pass“ ist, zumindest nicht offiziell.

Saverio Tassi, der Lehrer für Philosophie und Geschichte, ist so wie die meisten seiner Tangofreunde gegen den Grünen Pass. Er hat inzwischen Tanzpartnerin gewechselt. Mit der Dame im ockerfarbenen Kleid mit Faltenrock und breitem Gürtel läuft es runder. Er stellt ihr tänzerisch das Bein, dreht sie in einer langen Pirouette um sich selbst. Beide strahlen glücklich. „Ich liebe Tango“, erzählt Saverio eine Stunde zuvor in seiner kleinen Wohnung. Nicht einmal während seines zwanzigtägigen Corona-Hungerstreiks, der an diesem warmen Tag Ende März endet, hat er darauf verzichtet.

„Ich existiere nicht“

Der „Grüne Pass“ ist die Eintrittskarte ins Leben in Italien. In der Handy-App ist über den QR-Code gespeichert ob man getestet, geimpft oder genesen ist. Seit dem 15. Oktober 2021 muss jeder italienische Beschäftige damit nachweisen, dass einer dieser Zustände auf ihn zutrifft. Wer keinen Pass hat muss zu Hause bleiben und bekommt für diese Zeit kein Gehalt. All jene, die geimpft oder innerhalb eines halben Jahres genesen sind bekommen den „Super Grünen Pass“ mit dem spezielle Rechte einhergehen. Für über 50-Jährige gilt zudem eine Impfpflicht. PCR-Tests kosten rund 15 Euro. Ohne „Grünen Pass“ dürfen die Italiener keine Kleidung einkaufen, nicht ins Restaurant, ins Postamt oder in sonstige öffentliche Gebäude. Ohne den „Super Grünen Pass“ dürfen sie nicht einmal öffentliche Verkehrsmittel benutzen.

„Wir wollen Sie darauf hinweisen, dass Sie für die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel einen Grünen Pass haben müssen. Es gibt stichprobenartige Kontrollen in den Stationen und Strafen bei Nichteinhaltung dieser Regel“, tönt die freundlich korrekte Männerstimme aus dem Lautsprecher im Regionalzug zwischen Mailand und dem kleinen Ort Gallarate, wo Elena Tosini wohnt. Die Fahrt nach Mailand an ihre Universität ist jedes Mal ein Spießrutenlauf. „Einmal wurde ich in der Station Garibaldi kontrolliert. Dort muss ich umsteigen. Sie haben den Grünen Pass verlangt und ich habe ihnen einen gefälschten gezeigt, dann aber doch gestanden, dass ich keinen habe. Sie haben mich verwarnt aber nicht gestraft. Ich musste dann zwanzig Minuten lang einen anderen Weg zu meinem Zug suchen, damit sie mich nicht sehen. Ich kam mir vor wie ein Bandit“, erzählt die 38-jährige Jusstudentin.

Ihr Studium hat sie inzwischen auf Eis gelegt. Für jedes Mal auf die Uni fahren 15 Euro zahlen zu müssen geht ins Geld. Auch ist die Testinfrastruktur nicht sehr engmaschig. Manche Apotheken bieten nur an bestimmten Tagen Tests an, manchmal muss man sich auch noch vorher online anmelden. Mit zwei Teilzeitjobs hält sie sich über Wasser. In der kleinen Souvenirfabrik und der Bar wo sie arbeitet ist sie ein U-Boot. „Meine Chefs sagen ich kann bei ihnen arbeiten aber ohne Versicherung, sonst müssten sie Strafe zahlen. Ich existiere einfach nicht“, erzählt sie mit einem bitteren Lächeln. Viele Italiener, die sich im Widerstand befinden arbeiten nicht mehr. Sie haben kleine Jobs oder Arbeitslosengeld, was meistens kaum zum Überleben reicht.

„Vergogna!“ (Schande) ruft Elena plötzlich laut und wütend gemeinsam mit den anderen. Sie trägt Jeans und T-Shirt, ihre langen Haare sind am Kopf zusammengebunden, darunter sind die Haare abrasiert. Alessio der Redner hat den „Vergogna“-Ruf vorgegeben. Er steht in einem kleinen Park in einem äußeren Bezirk Mailands. Alessio hält die Rede am Kopfende eines Sarges, in dem die italienische Verfassungs symbolisch beerdigt wurde. „Vergogna“ hat er gerufen, weil die Stadtverwaltung den Aktivisten vor einiger Zeit einen stillen Protest für die Opfer der Impfung verboten hat.

Die Demonstration, die Alessio gemeinsam mit 13 anderen Gruppierungen an diesem Tag organisiert hat, ist durchgegangen. „Ich musste zwei Stunden lang dafür auf der Questura (Polizeipräsidium) mit der Polizei streiten. Es ist fast unmöglich geworden Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen zu organisieren“, erzählt der Webdesigner Alessio. Es sind rund hundert Menschen, die sich in dem kleinen Park, der gleichzeitig die Mitte eines Kreisverkehrs bildet, versammelt haben.

Demonstration gegen die Corona-Politik in Mailand, März 2022 | Bild: Liza Ulitzka

Die Demonstranten werden von rund 30 Polizisten, flankiert von fünf Mannschaftswagen, auf der anderen Straßenseite kritisch beäugt. Auch die Carabineri (Gendarmerie Italiens) sind mit zwei Autos vertreten. Es gibt eine kurze Besprechung mit einem Polizisten in dekorierter Uniform. Alles läuft glatt. Die Polizei stellt sich den Demonstranten heute nicht in den Weg. Sie dürfen mit ihrem roten Drachen mit zwei Spritzen auf dem Kopf, der von rund acht Demonstranten seine Füße verliehen bekommt, durch die Straßen ziehen. An einer Leine gefesselt führt der Drache ein Mädchen mit, das die italienische Flagge um die Schulter gelegt hat. Die Demonstrationen in Mailand sind nicht mehr dieselben. Das macht viele traurig und frustriert.

Campieren für die Verfassung

An einem Februartag bleibt der leidenschaftliche Tangotänzer Saverio Tassi besonders lange im Lehrerzimmer des Albert-Einstein-Gymnasiums sitzen. Er hat seinen Schlafsack dabei. Zuvor hat er noch kurz mit der Direktorin der Schule über seinen Plan gesprochen. Sie ist einverstanden. Er wartet bis der Hausmeister die Tore abschließt und das Gebäude verlässt. Um 11 Uhr wird er müde und geht in den Turnsaal. Er nimmt sich eine Turnmatte, rollt seinen Schlafsack darauf aus und legt sich hin.

Saverio ist 67 Jahre alt und besetzt aus Protest die Schule in der er seit sechzehn Jahren als Geschichte- und Philosophielehrer arbeitet. Er hat bereits einen „weißen Streik“ hinter sich und einen zwölftägigen Hungerstreik. Er protestiert gegen Artikel 4 einer Corona-Verordnung. Dieser Artikel 4 legt fest, dass bei zwei positiven Covid-Fällen in einer Klasse, die Schüler, die geimpft sind, also den „Super-Grünen-Pass“ haben, weiter Präsenzunterricht haben dürfen. Alle die nicht geimpft sind müssen nach Hause in den online-Unterricht. „Wenn ich mich einverstanden zeigen würde mit dieser Verordnung, dann würde ich einen Verfassungsbruch begehen“, meint Tassi. „Deswegen habe ich einen weißen Streik gestartet und habe mit meinen Schülern im Unterricht nicht mehr den regulären Stoff durchgenommen, sondern mit ihnen über die Verfassungsmäßigkeit dieser Verordnung diskutiert, während die Betroffenen aus meiner Klasse die zehn Tage in den online-Unterricht mussten“, erzählt Tassi in seiner fein säuberlich aufgeräumten 45-Quadratmeter-Wohnung. Die Wände sind mit Plakaten von Kunstausstellungen tapeziert, eine Wand verschwindet vollständig hinter einem großen Bücherregal.

Tassi gründet den Verein „Die Schule ist für alle gleich“ und sammelt mit seinen Mitstreitern 10.000 Unterschriften gegen den Artikel 4. Sie senden die Petition an den Unterrichtsminister Patrizio Bianchi. Weil Tassi keine Antwort von ihm bekommt besetzt er die Schule. Nach drei Tagen kommen Polizisten der Einheit Digos, die für politische Kriminalität zuständig sind. „Sie waren sehr freundlich, aber sie meinten, ich muss den Turnsaal jetzt verlassen“, erzählt Tassi. Daraufhin schlägt er ein Zelt vor der Schule auf. Darin schläft er bis heute jeden Tag außer Samstag. „Wegen des Saturday Night Fevers“, witzelt er. Zusätzlich beginnt er seinen zweiten Hungerstreik.

Saverio Tassi | Bild: Liza Ulitzka

Mit seinen Schülern gibt es hitzige Debatten über den Artikel 4 und die Corona-Maßnahmen. Dennoch, die meisten sind geimpft. Ob das nicht enttäuschend für ihn und seinen Kampf ist? „ Natürlich tut es mir Leid, aber ich verstehe es. ‚Mein Lehrer’, hat einmal eine Schülerin zu mir gesagt: ‚Zwei Jahre lang war ich in meinem Zimmer eingesperrt, ich war verzweifelt. Wenn die Regierung verlangt hätte, mir die Finger abzuschneiden um wieder hinaus zu können - Ich hätte es getan,’“ berichtet Tassi.

Er selbst ist drei Mal geimpft, obwohl er dieses Jahr in Pension gehen muss. „Ich wollte meine Schüler nicht im Stich lassen. Ich liebe es zu unterrichten und ich musste mich opfern, für mich und meine Schüler.“ Alle seine Kollegen, die die Impfung verweigert haben wurden ohne Gehalt suspendiert. Obwohl jetzt die Maßnahmen in Italien aufgehoben werden, dürfen diese Kollegen immer noch nicht unterrichten. „Sie dürfen zwar an die Schule zurück müssen aber alle zwei Tage einen Test machen. Unterrichten dürfen sie immer noch nicht, nur bestimmte Projekte mit den Schülern machen“, erklärt Tassi.

Viel schlimmer findet Tassi jedoch, was die Regierung mit den Kindern und Jugendlichen gemacht hat. Die Kinder hätten zwei Jahre Schulbildung verloren meint er. Die Selbstmordrate und die Anzahl der versuchten Selbstmorde ist in die Höhe geschossen. Er vergleicht es mit Herodes aus der Bibel, der alle Kinder töten ließ um Jesus als neuen König zu verhindern. „Diese, meine Generation, tötet die Kinder um sich selbst zu retten“, stellt er entsetzt fest. Seinen Hungerstreik hat er am Tag des Interviews mit zwei Marmeladebroten und einem Mittagessen beim Japaner beendet. „Nach zwanzig Tagen hat meine Gesundheit gelitten. Am Ende wurde es sehr schwer. Ich habe begonnen von Toasts zu halluzinieren“, lacht er. Außerdem haben mehrere Zeitungen von seinem Kampf berichtet und inzwischen hat ein Senator aus dem Parlament eine parlamentarische Anfrage wegen Tassis Anliegen an den Unterrichtsminister gestellt. Bis zur Beantwortung bleibt Saverio Tassi noch im Zelt und organisiert Konzerte und Tanzperformances im Park dahinter.

„Ich fordere Sie auf mich und alle anderen hier frei zu lassen!“ ruft Elena mit ihrer tiefen, rauen Stimme. „Wer kommandiert den Polizeikessel hier?“ ruft sie noch einmal während die dichte Kette aus Polizisten mit Helmen, Schilden und Schlagstöcken sie schweigend anstarren. Elena filmt die Szene um später gerichtlich gegen diese Behandlung vorgehen zu können. Es ist der 19. Februar dieses Jahres und die „Studenti contro il Green Pass“ (Studenten gegen den Grünen Pass), bei denen Elena seit August aktiv ist, sitzen in einem Polizeikessel fest. Zuvor haben sie mit rund tausend Demonstranten eine Standkundgebung am Leonardo-Da-Vinci-Platz vor der polytechnischen Universität abgehalten, die außerhalb des Zentrums liegt. Dafür hatten sie nach mehreren Versuchen eine Genehmigung bekommen.

Anti-Corona-Maßnahmen-Proteste im Zentrum von Mailand sind seit November 2021 komplett verboten. Nur Demonstrationen, die nichts mit Corona zu tun haben dürfen laut den Studenten nach wie vor im Stadtzentrum stattfinden. Die Polizisten der „Digos“ ließen sich nach der Standkundgebung dazu überreden, die Studenten und ihre Mitstreiter einen Demonstrationszug machen zu lassen. Die Digos-Polizisten in zivil würden sie dabei begleiten. Nach ein paar hundert Metern Marsch ändert sich die Situation dramatisch. Die Demonstranten werden von rund 150 uniformierten Polizisten eingekesselt. Angeblich weil sich gewalttätige Anarchisten unter ihnen befinden. „Wir waren absolut friedlich und sie haben uns stundenlang eingekesselt. Ein paar haben versucht über Seitenstraßen zu entkommen, was ihnen teilweise gelungen ist. Aber einige wurden gefasst und mussten später hohe Strafen über mehrere Tausend Euro zahlen“, erzählt Elena.

Auf einem anderen Video der Studenten ist zu sehen, wie Polizisten Demonstranten ohne erkennbaren Grund attackieren und zu Boden reißen. Ein Zivilbeamter der Digos schreit „Ich werde dich identifizieren!“ während er einen Demonstranten packt und zu den anderen Polizisten zerrt. Für Elena war dieser Tag ein Schock. Als sie nach Stunden im Kessel endlich nach Hause kommt kann sie bis sechs Uhr Früh nicht einschlafen. „Wir waren absolut nicht darauf vorbereitet, dass so etwas passieren könnte. Am Tag zuvor gab es eine Demonstration von Gymnasialschülern im Stadtzentrum zu einem anderen Thema. Die Schüler hatten sogar Häuser angesprüht und Feuerwerke gezündet aber die Polizei hat nichts getan,“ berichten Elena und andere Studenten ihrer Gruppe. Die Studenten haben auch an dem Schüler-Protest teilgenommen. Sie vermuten, dass die Repressionen gegen sie am 19. Februar rein politische Gründe hatten.

„In Mailand gab es die größte Protestbewegung von ganz Italien. Bei unseren Demonstrationen waren jedes Mal mindestens 30.000 Menschen auf den Straßen. In anderen Städten ist es bis heute kein Problem Demonstrationen gegen den Grünen Pass zu organisieren. Aber hier wurde alles abgedreht“, berichtet Victoire, eine junge Frau, die schon ihren Abschluss in Wirtschaftswissenschaften hat. Sie hat sich den „Studenti contro il Green Pass“ angeschlossen, weil sie sich sehr allein gefühlt hat nachdem sie Job und Freunde verloren hat, weil sie sich nicht impfen lassen wollte.

Im November begannen die Repressionen gegen die Demonstrationen indem die Polizei Wasserwerfer einsetzte. In der öffentlichen Debatte werden die Demonstranten in Rom beschuldigt mit Faschisten zu marschieren. In Mailand, das als kommunistische Hochburg gilt, werden sie als gewalttätige Anarchisten bezeichnet. Im September und Oktober waren die Proteste laut Elena sehr stark und wurden von den Medien regelmäßig ignoriert.

Das einzige Medium, das regelmäßig berichtete war Byoblu TV, ein alternativer Internet TV-Sender, der es über Spenden inzwischen geschafft hat eine eigene TV-Frequenz zu kaufen. Im Parlament gibt es nur eine Partei, die sich offen gegen den Grünen Pass wehrt, erzählt Elena. Es ist eine Abspaltung der 5-Sterne-Bewegung, die sich „Alternativa“ nennt. Die Mitglieder, die dann die „Alternativa“ gegründet haben, haben sich 2021 geweigert für das Kabinett von Mario Draghi zu stimmen und wurden daraufhin aus der 5-Sterne-Bewegung ausgeschlossen.

Die Unterdrückung der Demonstrationen gegen den Grünen Pass verschreckt viele Menschen und die Teilnehmer werden immer weniger. Die „Studenti contro il Green Pass“ koordinieren sich landesweit über Telegram und haben Komitees in jeder Stadt. Sie vernetzen sich auch mit anderen Protestgruppen wie den Hafenarbeitern von Triest. Auch dort ist der im Oktober starke Widerstand aufgrund der Repressionen fast vollständig zum Erliegen gekommen. Eine Anfrage bezüglich des Vorgehens der Polizei bei Protesten gegen die Corona-Maßnahmen blieb von der Pressestelle des sozialdemokratischen Bürgermeisters von Mailand unbeantwortet.

Strategie der Angst

„Das ist eine Strategie der Angst, eine Strategie um große soziale Bewegungen zu stoppen“, analysiert die Dokumentarfilmerin Claudia Cipriani während sie mit den Studenti contro il Green Pass, Saverio Tassi, Alessio und den anderen hinter dem roten Drachen her marschiert. Die rothaarige, groß gewachsene Frau schiebt ihr schwarzes Fahrrad, das sie schon seit Jahren als Hauptverkehrsmittel in Mailand benutzt. „Diese Strategie der Spannung hat ihre Wurzeln weit in der Vergangenheit und sie ist die Verbindung zu dem was heute passiert.“

Laut ihr hat alles mit dem Tod von Guiseppe Pinelli begonnen. Der Anarchist Pinelli stürzte 1969 unter mysteriösen Umständen vom Balkon der Polizeistation wo er in Gewahrsam war. Er wurde beschuldigt eine Bombe gezündet zu haben. „Zu dieser Zeit gab es eine große Bewegung für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, für die Öffnung der Universitäten für alle und so weiter. Die Menschen waren in Angst weil es zu der Zeit sehr viele Bombenanschläge im Land gab, die von rechten Gruppierungen geplant und ausgeführt wurden. Allerdings hat man den linken Anarchisten die Schuld dafür in die Schuhe geschoben und so konnte die soziale Bewegung erstickt werden.“

Der nächste Fixpunkt in der Geschichte war die gewaltsame Niederschlagung der Proteste gegen den G8-Gipfel in Genua 2001. Die Verhaftung und Folterung von Demonstranten durch italienische Sicherheitskräfte ebnete laut Cipriani den Weg für eine neue Form des Autoritarismus. Die soziale Bewegung die mit den Protesten einherging wurde wieder gewaltsam und mit Angstmache niedergeschlagen. Bald darauf folgte der 11. September, der die neuen Gesetze zum Krieg gegen den Terrorismus zur Folge hatte. „Das war wieder eine neue Art des starken Autoritarismus, der mit der Angst arbeitete. Und heute sehen wir wieder wie Menschen in Angst versetzt werden. Die Mechanismen sind sehr ähnlich. Regierungen nutzen die Angst, damit die Menschen autoritäre Gesetze akzeptieren. In Italien sind die Gesetze besonders streng und absurd. Ohne Grünen Pass können wir nicht arbeiten oder den Bus benützen.“ Deswegen hat Claudia Cipriani beschlossen ihre Filme dezidiert nur an Orten vor zu führen, die keinen Grünen Pass verlangen. „Kultur mit einem Pass ist ein großer Widerspruch, ich bin absolut dagegen!“

Nach zwei Stunden ist der Marsch mit dem Drachen wieder im kleinen Park im Kreisverkehr angekommen. Der Student Giorgio hat sich als heiliger Georg verkleidet, der der Legende nach einen Drachen getötet haben soll. In leichter Rüstung und mit Schwert beginnt der Student Giorgio den Papier-Drachen laut und wortreich zu traktieren. Zuerst befreit er die junge Frau mit der italienischen Flagge. „Draghi heißt Drache“, erzählt Elena mit einem Augenzwinkern. „Sie beziehen sich auf Mario Draghi, den italienischen Premierminister.“

Für alle hier ist klar, dass der Protest gegen die Corona-Maßnahmen weitergehen muss. Denn sie sind trotz der Öffnung vom 1. April nicht verschwunden. Ungeimpfte Lehrer dürfen weiterhin nicht unterrichten, Schüler müssen weiter Maske tragen und Saverio Tassi befürchtet, dass der Artikel 4 der Corona-Verordnung ein Gesetz werden könnte. Elena wird nie einen Vertrag in ihrer Fabrik bekommen, weil der Besitzer eine neue Pandemie befürchtet. Sie kann noch immer keine Ausstellungen oder Konzerte besuchen, weil sie dafür getestet sein müsste. Da es immer schwieriger mit Demonstrationen wird, setzen alle Aktivisten auf Aufklärungsarbeit in der Bevölkerung. Dazu wollen sie mehr kulturelle Veranstaltungen und kleinere Protestaktionen veranstalten.

Der Student Giorgio schlägt dem Papierdrachen unter Jubel der Anwesenden den Kopf ab. Aus ihm prasseln Süßigkeiten auf die Wiese auf die sich alle fröhlich stürzen. Besiegt ist der echte Drache noch lange nicht, aber Angst hat hier keiner vor ihm.

Über die Autorin: Liza Ulitzka, Jahrgang 1981, hat 13 Jahre lang als Reporterin und Chefin vom Dienst in der Nachrichtenredaktion des österreichischen privaten TV-Senders PULS4 (Pro7Sat1 Österreich) gearbeitet. Rund drei Jahre lang war sie als freie Journalistin in Ägypten/Kairo tätig, wo sie für deutsche und österreichische Medien von den Umbrüchen nach dem arabischen Frühling berichtet hat. Seit 2020 ist Liza Ulitzka freie Journalistin und lebt in Wien.


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Original Autor: Herausgegeben von Stefan Korinth, Paul Schreyer und Ulrich Teusch
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