„Die Corona-Rechtsprechung hat sich vom Leben entkoppelt“
Multipolar: Herr Barisic, Sie sind Sprecher des Netzwerks Kritische Richter und Staatsanwälte in Deutschland, kurz KRiStA. Ihr Netzwerk, so kann man es auf Ihrer Webseite lesen, „beobachtet das politische Handeln und das Handeln der Gesetzeshüter in der Corona-Krise aus rechtsstaatlicher Sicht mit sehr großer Sorge“. Sie setzen sich ein für das Grundgesetz und die freiheitliche demokratische Grundordnung. Wie steht es 2022 um den Rechtsschutz in Deutschland?
Barisic: Wir leben in einer Zeit, in der wir seit zwei Jahren die stärksten und flächendeckendsten Einschränkungen unserer Grundfreiheiten seit dem Zweiten Weltkrieg erleben. Das mag am Anfang noch mit Fug und Recht passiert sein. Wir hatten eine neue Situation, die auch die Justiz und die Gerichte gewissermaßen überfahren hat. Mittlerweile ist die Lage aus unserer Sicht aber eine ganz andere. Wir haben eine Vielzahl an Erkenntnissen gewinnen können über die letzten zwei Jahre, die Wissenschaft hat viele Fortschritte gemacht. Wir wissen deutlich mehr über das Virus und die Pandemie. Gleichzeitig hat man mit Blick auf die Rechtsprechung den Eindruck, dass etwaig formulierte Textbausteine aus Mitte 2020 nicht weiterentwickelt wurden. Das heißt, die Argumentation ist noch dieselbe, obwohl das mit unserer Lebenswirklichkeit und der Faktenlage nicht mehr übereinstimmt. Und um zu Ihrer Frage zu kommen: Der Rechtsstaat funktioniert auch weiterhin. In Bezug auf die Corona-Maßnahmen und deren rechtliche Bewertung habe ich allerdings erhebliche Zweifel, ob die meisten hiervon mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Insbesondere die Prüfung der Verhältnismäßigkeit erfolgt auf der Grundlage von Annahmen, die nicht mehr zutreffen. Wir haben daher massive Zweifel an der Rechtmäßigkeit vieler Maßnahmen.
Multipolar: So ist es auch zur Entstehung von KRiStA gekommen. Pieter Schleiter, Strafrichter im Landgericht Berlin, hatte Ende 2020 als Privatperson Verfassungsbeschwerden gegen die Neufassung des Infektionsschutzgesetzes und mehrere Corona-Verordnungen erhoben. Sie wurden aber nicht zur Entscheidung angenommen.
Barisic: Unser Gründungsmitglied Pieter Schleiter hat Ende 2020 beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eine annähernd 200 Seiten starke Verfassungsbeschwerde gegen die Neufassung des Infektionsschutzgesetzes und mehrere Corona-Verordnungen erhoben. Diese Verfassungsbeschwerde eines Richters hat in der Folge zu einem gewissen medialen Echo geführt. Unter anderem die WELT hat im März 2021 ein längeres Interview mit Pieter Schleiter geführt. Dies war gewissermaßen der Beginn unseres Netzwerkes, da sich viele Kollegen von den Standpunkten Schleiters angesprochen fühlten. Mit der Verfassungsbeschwerde ist lange erst einmal nichts passiert. Nach einer Sachstandsanfrage gab es eine schnelle Reaktion in Form eines Dreizeilers, dass diese Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen wurde. Begründet wurde die Nichtannahme mit der Nichtausschöpfung des Rechtswegs. Erschütternd dabei ist, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner eigenen ständigen Rechtsprechung bislang hier klar vorliegende Ausnahmen – nämlich bei Verfassungsbeschwerden gegen Straf- und Bußgeldnormen – zu dieser Regel zugelassen hat und das Abrücken von dieser ständigen Rechtsprechung trotz umfangreicher Gegendarstellung mit keinem Wort begründet hat.
Multipolar: Wie kann es sein, dass umfassende Verfassungsbeschwerden nicht angenommen werden?
Barisic: Das Bundesverfassungsgericht entscheidet selbst über die Annahme zur Entscheidung und muss diese Entscheidung auch nicht begründen. Und hiergegen gibt es auch kein Rechtsmittel oder ähnliches. Das widerspricht der allgemeinen Übung, dass gerichtliche Entscheidungen ausführlich und auch so begründet werden müssen, dass sie in der Rechtsmittelinstanz Bestand haben. Das Bundesverfassungsgericht aber hat Hunderte von Verfassungsbeschwerden während der Pandemie ohne eine solche Begründung nicht zur Entscheidung angenommen.
Multipolar: Ist das nicht ein Fehler in unserem Justizapparat?
Barisic: Das Bundesverfassungsgericht soll Hüter der Verfassung sein. Es soll die Verfassung bewahren und Gesetze an diesem Maßstab überprüfen. Daher gebe ich Ihnen vollkommen Recht, es mutet äußerst seltsam an, dass wir ein Gericht haben, das im Moment über die elementarsten Fragen von Leben und Beruf entscheiden soll und dies überwiegend einfach ablehnt. Ohne Begründung. Aus meiner Sicht ist es in einer Situation wie der heutigen verheerend, in der wir gesetzgeberische Entscheidungen erleben, die massiv in das Leben von Menschen eingreifen – siehe beispielsweise die einrichtungsbezogene Impfpflicht. Dass dann eine Verfassungsbeschwerde, die mit sehr viel Mühe, Einsatz und mitunter viel Geld erhoben wird, mit einem Dreizeiler beantwortet werden darf, erstaunt. Wir reden ja nicht über irgendwelche Naturschutzgebiete, Windräder oder ähnliches, bei denen die individuelle Betroffenheit manchmal fraglich ist. Wir reden hier darüber, dass vielen Menschen durch politische Maßnahmen und Gesetze die Erwerbsgrundlage entzogen wird.
Multipolar: Nur eine Beschwerde gegen die Einrichtungsbezogene Impfpflicht – von Rechtsanwalt Uwe Lipinski aus Heidelberg – wurde angenommen.
Barisic: Die allgemeine Impfpflicht wurde vom Deutschen Bundestag abgelehnt, mit guten Gründen, wie ich finde. Trotzdem gibt es eine einrichtungsbezogene – faktische – Impfpflicht. Und den Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, wird durch die Arbeitgeber nahegelegt: Lasst euch impfen, sonst müssen wir euch im Zweifel feuern. Es gibt Arbeitsgerichtsprozesse, wo ungeimpfte Mitarbeiter auf Weiterbeschäftigung klagen. Mitarbeiter, die gerne arbeiten wollen. Und sie arbeiten in einem Bereich, in dem seit Jahrzehnten geklagt wird, dass es zu wenig Personal gibt und der Betreuungsschlüssel zu schlecht sei. Wenn diese zahlreichen von Arbeitslosigkeit bedrohten Menschen dagegen klagen, darf man das nicht einfach ohne Begründung wegwischen. Man hat es hier mit Menschen zu tun, die arbeiten wollen, sich aber nicht gegen Covid impfen lassen möchten. Viele Arbeitgeber wollen diese Angestellten auch ohne Impfung weiter beschäftigen.
Aber jetzt kommt der Gesetzgeber und sagt: Du musst dich bis zum Zeitpunkt X impfen lassen, ansonsten verbieten Dir die Gesundheitsämter womöglich das Betreten deines Arbeitsplatzes, und dann bist du erwerbslos. Hier wird ganz massiver Druck aufgebaut. Erst kürzlich hat das Bundesverfassungsgericht in einer Eilentscheidung zur einrichtungsbezogenen Meldepflicht in seltenen Fällen mögliche Todesfolgen durch die Impfung thematisiert (BVerfG, 10. Februar 2022 – 1 BvR 2649/21 –). Bei der dann vorgenommenen Abwägung mit den Rechtsgütern der Beschwerdeführer werden diese auf die Möglichkeit verwiesen, sich einen anderen Job zu suchen. Ich finde, aus diesen Erwägungen – ob sie nun richtig oder falsch sind – spricht eine gewisse Überheblichkeit, die den betroffenen Menschen nach den Entbehrungen der letzten zwei Jahre schwer zu vermitteln ist. Ich habe den Eindruck, dass sich die Rechtsprechung in Sachen Corona ein Stück weit entkoppelt hat vom wahren Leben. Wir dürfen eines nicht vergessen: Urteile werden im Namen des Volkes gesprochen. Man darf auch eine Minderheit des Volkes nicht so vor den Kopf stoßen.
Multipolar: Rechtsanwalt Dr. Lipinski bekam dann am 19. Mai 2022 den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts übersandt. Die Entscheidung lautete: Die einrichtungsbezogene Impfpflicht ist verfassungsgemäß. Auf der Webseite von Dr. Lipinski kann man lesen:
„Die Entscheidung stellt eine ernsthafte Gefahr für die medizinische Versorgung dar, da nunmehr eine große Anzahl an Zutritts- und Tätigkeitsverboten sowie Bußgeldverfahren droht. Das Gericht ist auf unsere Einwendungen gegen das bedingte Zulassungsverfahren der sog. Impfstoffe, auf unsere Ausführungen zum Genesenenstatus und vor allem gegen die Art der Statistik des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI), betreffend die Zahl der Impfkomplikationen, praktisch gar nicht eingegangen. Wir vermissen ferner u.a. auch die Erwähnung unserer Ausführungen zur Unvereinbarkeit der Impfpflicht mit internationalem Recht und eine Thematisierung dieser Argumentation. (...) Besonders unbefriedigend ist, dass das Gericht erneut keine mündliche Verhandlung durchzuführen bereit gewesen ist, obwohl dies mehrfach beantragt und erbeten worden ist.”
Herr Barisic, sind damit alle vorliegenden Beschwerden gegen die einrichtungsbezogene Impfpflicht hinfällig?
Barisic: Grundsätzlich wirkt eine gerichtliche Entscheidung immer nur für und gegen die am Verfahren beteiligten Parteien. Rein formal sind daher weitere dort anhängige Verfahren erst einmal nicht betroffen. Bei Lichte betrachtet ist es aber nicht zu erwarten, dass das Bundesverfassungsgericht bei ähnlich gelagerten Sachverhalten unterschiedlich entscheiden wird. Insofern gehe ich davon aus, dass die Entscheidung Signalwirkung für die anderen noch anhängigen Verfahren haben wird.
Multipolar: Wie sehen Sie diese Entscheidung?
Barisic: Wir haben auf unserer Internetseite am 26. Mai eine Entscheidungsbesprechung des Kollegen Matthias Guericke veröffentlicht, die sich detailliert mit dieser Entscheidung und der viel zu oberflächlichen Auseinandersetzung mit den wirklich wichtigen Fragen auseinandersetzt. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 27. April zur „einrichtungsbezogenen Nachweispflicht“ krankt im Wesentlichen an drei Stellen. Das fängt bei dem Umstand an, dass es keine mündliche Verhandlung gegeben hat, obwohl dies angesichts der politischen und auch menschlichen Brisanz des Themas geboten gewesen wäre. Insofern teile ich die Auffassung von Herrn Rechtsanwalt Dr. Lipinski.
Weiter unterlässt das höchste Gericht eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem faktischen Dilemma, dass die Impfung bereits statistisch dazu führt, dass Menschen an den Folgen der Impfung sterben werden. Hier hätte das Gericht sich zwingend mit der eigenen Rechtsprechung aus 2006 zum Flugsicherheitsgesetz und den dort entwickelten Grundsätzen auseinandersetzen müssen. Damals betonte das Gericht ein Verbot, den Menschen zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu machen. Im jüngsten Beschluss wird diese Problematik weitestgehend ausgeblendet, obwohl eine vertiefte Auseinandersetzung sich geradezu aufdrängt. Der Beschluss gibt dem Gesetzgeber im Grunde eine Art Freifahrtschein für unklare Lagen an die Hand, indem das Bundesverfassungsgericht die Prüfung der Verhältnismäßigkeit anhand einer bloßen Vertretbarkeitskontrolle genügen lässt. Ein vertiefte Auseinandersetzung unterbleibt.
Schließlich geht das Gericht aus unerfindlichen Gründen noch immer davon aus, dass die Impfung einen relevanten Fremdschutz bietet. Diese pauschale Annahme widerspricht zahlreichen Stimmen aus der Wissenschaft beziehungsweise setzt sich nicht mit ihnen auseinander.
Multipolar: KRiStA hatte bezüglich der Impfpflicht am 2. April einen offenen Brief an die Mitglieder des Bundestages verfasst, damals noch anlässlich der geplanten Abstimmung zur Impfpflicht. Die Aussage dieses Papiers ist: „Mit einer Impfpflicht tötet der Staat vorsätzlich unschuldige Menschen“. Das hatte erstaunlicherweise keine großen Kreise gezogen.
Barisic: Mich hat es auch überrascht. Wir haben diese Aussage hergeleitet aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz aus dem Jahr 2006. Unsere Argumentation ist absolut plausibel. Auch ich hätte erwartet, dass diese Aussage mehr Menschen zum Nachdenken anhält. An uns direkt gerichtet gab es lediglich eine Anfrage einer sogenannten Faktencheckerin aus Frankreich. Sie wollte wissen, ob wir tatsächlich der Meinung seien, dass die einzelnen Abgeordneten, die für eine solche Impfpflicht stimmen, sich einer vorsätzlichen Tötung strafbar machen. Das aber ist gerade nicht der Fall. Ich habe das entsprechend klargestellt. Es ist aber juristisch absolut korrekt, dass mit dem Erlass einer solchen Impfpflicht der Staat vorsätzlich Menschen tötet.
Multipolar: Können Sie das näher erläutern?
Barisic: Unser Strafrecht basiert auf dem Gedanken, dass sich immer nur Menschen strafbar machen können, sogenannte natürliche Personen. Mit der Formulierung: '(…) tötet der Staat vorsätzlich Menschen', meinen wir auch nicht, dass sich die einzelnen Abgeordneten strafbar machen. Artikel 46 Absatz 1 Grundgesetz bestimmt, dass ein Abgeordneter wegen seiner Abstimmung oder wegen einer Äußerung im Bundestag oder in einem seiner Ausschüsse nicht gerichtlich oder dienstlich verfolgt werden kann – die sogenannte Indemnität. Abgeordnete sind in dieser Tätigkeit also frei von Strafverfolgung. Das Parlament als Organ des Staates ist natürlich auch nicht strafbar. Überträgt man aber die Dogmatik des Strafrechts und des Verfassungsrechts auf das Parlament, würde es sich strafbar machen: Die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht führt statistisch sicher zu Todesfällen. Diese aber wären nicht gerechtfertigt. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Entscheidung aus dem Jahr 2006 zum Luftsicherheitsgesetz der Tötung unschuldiger Menschen eine klare Absage erteilt. Die Tötung der einen Gruppe von Menschen zur Rettung einer anderen Gruppe ist durch nichts zu rechtfertigen und damit rechtswidrig. Für die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht und die damit einhergehende Tötung einiger Menschen kann nichts anderes gelten.
Multipolar: Um was ging es damals genau?
Barisic: Das Szenario war: Ein Flugzeug mit Zivilisten wird durch Terroristen gekapert. Es wird gedroht, dieses Flugzeug zum Absturz zu bringen über bewohntem Gebiet. Darf man dieses Flugzeug abschießen, ja oder nein? Darüber wurden Bücher geschrieben, Talkshows gesendet und Fernsehfilme gedreht. Und zu dieser Frage hat sich das Bundesverfassungsgericht 2006 klar positioniert. Es entschied: nein, das geht nicht. Wir können den einzelnen Menschen nicht zum bloßen Objekt machen, zur bloßen Abwägungsmasse. Das eine Menschenleben darf nicht gegen das andere aufgewogen werden. Und jetzt, 2022, haben wir dieselbe Diskussion im Gewand der allgemeinen Impfpflicht.
Multipolar: „Die Corona-Rechtsprechung hat sich entkoppelt vom wahren Leben“, sagten Sie anfangs. Wenn man diesen Satz aus der Sicht eines Bürgers betrachtet, der eine Beschwerde eingereicht hat, die zurückgewiesen wurde – auch aus der Sicht eines Rechtsanwaltes –, dann könnte man zu der Annahme kommen, dass es sich hier um Justiz-Willkür handelt.
Barisic: Willkür ist ein großes Wort. Ich will nicht so weit gehen, die Entscheidungen als willkürlich zu bezeichnen. Aber ich würde sagen, dass die den überwiegenden Entscheidungen zugrunde gelegten Tatsachen nicht mehr zutreffen. Das Gericht muss seiner Entscheidung einen bestimmten, möglichst zutreffenden Lebenssachverhalt zugrunde legen. Anfang 2020 hatten wir zunächst ein unbekanntes Virus. Menschen wurden krank, Menschen starben. Und natürlich mussten die Gerichte anfangs bei den anhängigen Eilverfahren Prognose-Entscheidungen treffen. Was passiert, wenn wir in die eine oder die andere Richtung entscheiden? Wenn man am Anfang gesagt hat, dass die Gefährdungslage durch dieses unbekannte Virus so groß ist, dass man gar nicht weiß, wie viele Menschen sterben und die Einschränkung durch die politischen Maßnahmen gegenübergestellt hat, dann waren damals die Entscheidungen “pro Sicherheit” sicherlich gut und richtig. Aber das ist nicht mehr zu vergleichen mit der Situation heute, mit all den wissenschaftlichen Erkenntnissen der letzten beiden Jahre.
Multipolar: Am Anfang hieß es, wir müssen das Gesundheitssystem vor dem Kollaps retten.
Barisic: Heute wissen wir, dass das Gesundheitssystem nie auch nur an den Rand eines Kollapses gekommen ist. Wir wissen, dass es in den letzten beiden Jahren eine spürbare Unterbelegung der Krankenhäuser gab, 2020 wurden meines Wissens etwa 21 Krankenhäuser sogar geschlossen. Man muss diese Dinge doch in Betracht ziehen bei der Frage, ob die Begründung von früheren Entscheidungen auch heute immer noch tragfähig ist. Es ist der Kernbereich richterlicher Tätigkeit. Wenn ich als Richter über Sachverhalt zu entscheiden habe und mir Fachkenntnis fehlt, dann muss ich den entsprechenden Sachverstand extern einholen. Ein Richter ist kein Mediziner, auch kein Virologe. Es müssen Experten gehört werden, die sich damit auskennen. Und das muss dann auch die Grundlage sein, auf der ich später entscheide. Das passiert aber im Hinblick auf die Corona-Maßnahmen absolut unzureichend.
Am Anfang wurde gesagt: Wir schauen, was das Robert Koch-Institut sagt. Das mag mangels Alternative richtig gewesen sein, aber zwei Jahre später gibt es eine Vielzahl weltweiter wissenschaftlicher Erkenntnisse und Untersuchungen. Und was passiert? Man schaut in den meisten Fällen immer noch nur auf die Sichtweise des RKI. Die Meinung des RKI ist gewissermaßen sakrosankt. Wenn ich mir dann aber überlege, dass Entscheidungen eines Ministeriums allein begründet werden mit der Expertise einer diesem Ministerium untergeordneten Bundesbehörde, dann muss ich doch zumindest mal überlegen: Wie wahrscheinlich ist es, dass eine solche Behörde jetzt von ihrer Linie abweicht? Die Wahrscheinlichkeit ist nicht hoch, weil Menschen geneigt sind, ihre einmal gefasste Meinung zu bestätigen. Aber ich wäre heute verpflichtet, auch andere Sachverständige, anderen Sachverstand mit an Bord zu nehmen. Das passiert aber fast nicht. Das anerkannte wissenschaftliche Narrativ bleibt weiterhin sehr schmal. Alles, was rechts und links davon passiert, wird kaum gehört.
Multipolar: Wie sieht es dann mit dem Vertrauen der Bürger in unseren Justizapparat aus?
Barisic: Das hängt vermutlich auch davon ab, inwieweit man selbst betroffen ist. Ohne eigene konkrete Betroffenheit – etwa weil man aus gesundheitlichen Gründen keine Maske tragen kann oder eine Covid-Impfung ablehnt – wird man sich zumeist mit dem Blick in die Leitmedien begnügen und schauen, was ARD und ZDF sagen und was in der Tagesschau berichtet wird. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Corona-Maßnahmen fand dort nach meiner Wahrnehmung bislang kaum statt. Erst in jüngster Zeit gibt es auch derartige Berichte, unter anderem über teilweise schwere Nebenwirkungen der Impfung. Wenn man als Bürger erlebt, dass trotz der zunehmenden Zweifel an den Corona-Maßnahmen und der Impfstrategie weiterhin stur am Kurs festgehalten wird, dann sollte uns das alle zum Nachdenken bringen. Und wenn Sie dann berechtigte Zweifel haben, durch die Maßnahmen konkret betroffen sind, Rechtsschutz suchen, dieser Rechtsschutz aber mit der seit zwei Jahren immer gleichen Begründung, ohne den Sachverhalt wirklich aufzuklären, verwehrt wird, ist das Vertrauen einer Vielzahl von Menschen in den Rechtsstaat besorgniserregend nachhaltig beschädigt.
Multipolar: Es gibt folglich einige Mängel in unserem Justizapparat. Wie wäre es möglich, dass man sich wieder auf eine Rechtsprechung besinnt, die unserem Grundgesetz entspricht?
Barisic: Indem sich Berufsjuristen darauf besinnen, was sie in ihrer Ausbildung gelernt haben. Indem wir ganz banal hergehen und jede dieser Einschränkungen verfassungsrechtlich prüfen. Wenn man das sauber macht, kommt man nach wie vor zu guten Ergebnissen. Aber das wird nach meiner Wahrnehmung – bezogen auf die Corona-Rechtsprechung – in vielen Fällen nicht getan. Der Sachverhalt wird nicht ausreichend ermittelt und neuere wissenschaftliche Erkenntnisse nicht ausreichend gewürdigt. Wir lesen immer noch von Erkenntnissen und Befürchtungen, die aus dem Jahr 2020 stammen. Hier müsste man ansetzen – an den Erkenntnissen zur Infektiosität des Corona-Virus unter freiem Himmel, zum virologischen Nutzen von OP- und FFP2-Staubschutzmasken, zur Aussagekraft des PCR-Tests und zur mittlerweile widerlegten Annahme des relevanten Fremdschutzes der Covid-Impfung. Das wäre bereits völlig ausreichend.
Multipolar: Was steht dem „ordentlichen Arbeiten“ möglicherweise im Wege, machtpolitische Abhängigkeit?
Barisic: Dazu kann ich nur Vermutungen äußern. Im Gerichtssaal heißt es immer: Der Glaube gehört in die Kirche. Ich will Ihnen aber ein Beispiel nennen. Es gab im April 2021 am Amtsgericht Weimar einen Beschluss eines Familienrichters, mit dem zwei Weimarer Schulen untersagt wurde, den Schülerinnen und Schülern vorzuschreiben, Mund-Nasen-Bedeckungen aller Art (insbesondere qualifizierte Masken wie FFP2-Masken) zu tragen. Grundlage für die Entscheidung waren mehrere Sachverständigengutachten, die das Gericht zuvor eingeholt hatte. Damit hat das Gericht genau das getan, was es soll: Es hat den Sachverhalt erforscht. Es hat Sachverständige an Bord genommen, Gutachten eingeholt und auf Grundlage der so gewonnenen Erkenntnisse eine Entscheidung getroffen. Es gab sofort viel Kritik an der Entscheidung. Es wurden mehrere Strafanzeigen erstattet, unter anderem wegen des Vorwurfs der Rechtsbeugung. Eine dieser Strafanzeigen kam nach meiner Kenntnis gar aus den Reihen der Politik in dem betreffenden Bundesland. Im Zuge der Ermittlungen kam es dann sogar zu Durchsuchungsmaßnahmen unter anderem bei diesem Richter. Andere Richter werden es sich im Anschluss gut überlegt haben, ob sie gegen so genannte feststehende Grundsätze oder Erkenntnisse entscheiden.
Multipolar: Wie genau kam es zur Annahme des Vorwurfs der Rechtsbeugung?
Barisic: Man kann die Weimarer Entscheidung durchaus mit guten Gründen kritisieren. Einer der Hauptkritikpunkte ist, dass es sich nicht um einen in die Zuständigkeit des Familiengerichts fallenden Sachverhalt handeln sollte. Das Familiengericht hat eine Entscheidung getroffen in Bezug auf die Maskenpflicht in einer Schule. Das ist ein Sachverhalt, den man eher den Verwaltungsgerichten zuordnen würde. Überspitzt formuliert: Was bildet sich dieser Familienrichter ein? Er kann doch nicht über einen Sachverhalt entscheiden, für den er nicht zuständig ist. Was aber nicht passiert ist: die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Entscheidung. Ich glaube, diese Entscheidung erfolgte auf rund 170 Seiten. Es wurden Gutachten eingeholt zur Frage der Schädlichkeit von Masken bei Schülern, wenn diese über Stunden getragen wird. Das waren alles Fachleute. Und keine mir bekannte Stimme, die sich dagegen positioniert hat in der Öffentlichkeit, hat sich jemals inhaltlich mit diesen Gutachten auseinandergesetzt. Man hat sich nicht damit beschäftigt, ob die Ergebnisse der Gutachten vielleicht richtig sein könnten. Meines Wissens ist auch dieses Verfahren wegen Rechtsbeugung noch nicht abgeschlossen. Man hat aktuell ein Verfahren, ein Damoklesschwert, das über einem arbeitenden Richter schwebt.
Multipolar: Wenn Richter, Staatsanwälte oder Rechtsanwälte Angst haben müssen vor einer Hausdurchsuchung und einem Angriff seitens der Medien und der Politik wegen ihrer juristischen Entscheidungen, steht dann aktuell die Unabhängigkeit des Justizapparats und der Entscheidungen zur Disposition?
Barisic: Ich weiß nicht, ob man das in dieser Schärfe formulieren kann. Wir haben eine Staatsanwaltschaft, die ermittelt. Wir haben ein Ermittlungsgericht, das diesem Antrag auf Durchsuchung stattgegeben hat. Das ist in einem rechtsstaatlichen Verfahren erfolgt. Ich kenne den Sachverhalt nicht im Einzelnen, aber im Zweifel muss ich davon ausgehen, dass die Kollegen ihren Job ordentlich gemacht haben. Aber das Signal, das davon ausgeht, ist verheerend. Stellen Sie sich einmal vor, ein solcher Sachverhalt wäre in einem anderen Land passiert, beispielsweise Russland, Nordkorea, China. Hier hätten sich sehr viele Stimmen gefunden, die gesagt hätten: Was passiert denn da? Ist die Unabhängigkeit der Justiz in Gefahr?
Multipolar: Man hätte es Einschüchterungsversuch genannt.
Barisic: Man kann das vielleicht auch bei uns so nennen. Ich tue es nicht, aber ich verstehe es, wenn Menschen das so bezeichnen.
Multipolar: Herr Barisic, ganz zu Anfang der Pandemie kursierte vor allem in den Sozialen Medien ein Papier, von dem es zunächst hieß, es sei ein Fake: Das sogenannte Panik-Papier des Bundesinnenministeriums, wo genau beschrieben wurde, wie die Bevölkerung in Panik versetzt werden soll, damit sie die Maßnahmen annimmt und mitgeht. Wie sehen Sie das als Richter? Wie sehen das die Kollegen?
Barisic: In erster Linie sehe ich das als Mensch, als Vater von drei Kindern. Und ich habe mich damals fürchterlich darüber aufgeregt und tue es heute noch. Das ist eine Art moralischer Dammbruch gewesen, dass man ein Papier auf Regierungsebene ausgearbeitet hat, unter Zuhilfenahme von Steuergeldern, in dem die Zielsetzung ist, der eigenen Bevölkerung maximale Angst einzujagen. Und wenn ich dann Passagen sinngemäß zitiere, wo es heißt, die Kinder müssen sich darüber im Klaren sein, dass, wenn sie nach wie vor Kind sind und sich kindlich verhalten, sie möglicherweise am Ende schuld sind, wenn Oma und Opa sterben und elendig ersticken: Man muss kein Kinderpsychologe sein, um sich vorstellen zu können, was das in der Kinderpsyche auslöst. Und wir sehen ja heute die Folgen dieser Angstpropaganda, die weiterhin hochgehalten wird. Psychische Auffälligkeiten haben dramatisch zugenommen. Und es gibt dennoch Mitglieder im Bundeskabinett, die auch weiterhin Panik statt Zuversicht verbreiten. Wenn man zwei Jahre lang in dieser Warn- und Angstschleife ist, das macht etwas mit den Menschen.
Auch Richter und Staatsanwälte sind Menschen. Auch wir sind nicht gefeit vor so einer Angst-Spirale. Ich habe verschiedene Gespräche mit Kollegen geführt, wo ich vorsichtig vorgefühlt habe, ob diese Wahrnehmung der Pandemie, die wir im April 2020 hatten, mit möglicherweise Millionen von Toten, immer noch dieselbe ist. Und da kommt ganz oft, beinahe reflexartig, die Rechtfertigung: Ja, willst du denn Leben gefährden? Das erinnert mich ein bisschen an eine Aussage eines bekannten Mediziners, der dazu sagte: „Früher war es in der DDR so, dass am Ende jeder Diskussion das Gegenüber irgendwann, wenn es nicht mehr weiterging, sagte: Bist Du für den Krieg?“
Multipolar: Wir müssten aus der Angst-Spirale herauskommen?
Barisic: Wir müssen einfach den gesunden Menschenverstand einschalten und überlegen: Was wissen wir über die letzten zwei Jahre? Was wissen wir über die Gefahren? Welche Zahlen haben wir? Da liegt sehr viel auf dem Tisch. Was ist in anderen Ländern passiert? Herr Lauterbach hatte neulich wohl wieder gesagt, die Zahlen in Schweden seien alle ganz furchtbar. Aber die Tatsachen sehen völlig anders aus. Wenn wir Schweden als Beispiel nehmen: Die Inzidenzwerte sind dauerhaft niedriger als bei uns, obwohl sie dort kaum Maßnahmen hatten und alles freiwillig war. Bei uns haben wir ganz viele verpflichtende Maßnahmen und die Inzidenzwerte sind nach wie vor ganz oben. Wenn man diesen Gedanken weiter spinnt, dann kommt man auch zu der Frage: Was sagen eigentlich diese Inzidenzwerte aus?
Multipolar: Kommen wir nochmal zu dem Panik-Papier und dem Druck, der auf die Bevölkerung ausgeübt wurde, vor allem auf die Kinder. Der Druck wurde vorsätzlich ausgeübt, Psychologen sprechen hier von Folter. Denn wenn ich A nicht tue, wird B passieren. Kann man das aus rechtlicher Sicht auch so einordnen?
Barisic: Es hat etwas von einem nötigenden Verhalten. Zur Erreichung eines bestimmten Zieles beschreibt man ein Szenario mit derart drastischen Mitteln, dass man sich fragt, ob das überhaupt gerechtfertigt sein kann. Strafrechtlich können Sie das, meines Erachtens, nicht einordnen. Aber ich finde das moralisch verwerflich. Mal abgesehen davon, dass meines Wissens kaum ein Mediziner an der Entstehung dieses Papiers beteiligt war. Man hätte Psychologen dazu nehmen können und müssen. Das ist alles nicht passiert. Ich würde es nicht Folter nennen, aber es hat möglicherweise ähnliche Auswirkungen wie Folter auf die Psyche von Menschen. Als Mensch und Vater kann ich sagen, ich habe von Tag eins an meinen Kindern versucht zu vermitteln: Das ist völliger Unsinn. Und wenn es tatsächlich so ist, dass Oma und Opa gefährdet werden, dann fragen wir zuerst einmal sie, ob sie euch lieber sehen wollen oder nicht. Ich appelliere immer zuerst an die Eigenverantwortung und den gesunden Menschenverstand.
Über den Interviewpartner: Thomas Barisic arbeitete nach seinem Jura-Studium als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Gießen. Sein Rechtsreferendariat absolvierte er in Hamburg, wo er als Rechtsanwalt im öffentlichen Wirtschaftsrecht tätig war. Im Anschluss folgte der Übertritt in den Justizdienst, zunächst bei der Staatsanwaltschaft Hamburg, danach bei der Staatsanwaltschaft Koblenz. Das Interview führte er nicht in seiner dienstlichen Eigenschaft, sondern als Privatperson und Sprecher von KriStA.
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