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Die Agonie der Leitmedien oder wie kommt der Phönix aus der Asche?

- Offener Brief an die Belegschaften im öffentlich-rechtlichen Rundfunk -
- Einladung an Journalisten und Bürger, den Journalismus neu zu gestalten -

Der Chefredakteur der NZZ attestiert den Medien Versagen und die Unfähigkeit, das Versagen aufzuarbeiten (1). Eine Untersuchungskommission diagnostiziert beim NDR Führungsschwäche und ein verheerendes Betriebsklima (2). Ein Ex-Intendant legt der Führungsspitze den Rücktritt nahe (3), ein Ex-Chefreporter fordert die Belegschaft auf, ihn durchzusetzen (4). Ein Schelm, wer denkt, der Zukunftsrat werde es richten.

Nehmen wir Corona als Lackmustest für das Funktionieren unserer Gesellschaft, sieht die Bilanz düster aus. Das Handeln der Medienschaffenden zeigt dabei besonders weitreichende Folgen und das Vertrauen der Bürger in die Medien hat deutlich abgenommen (5). Sprechen wir heute von Spaltung und Schwarz-Weiß-Denken, ja Diffamierung, tragen sie dafür zuerst die Verantwortung. Nach 25 Jahren im öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR) weiß ich, der NDR ist keine Ausnahme. Was in puncto Führungsstil, Betriebsklima und Kommunikationskultur dort ans Licht kommt, gilt auch für den SWR. Die Frage kann nicht mehr lauten, ob es um die anderen Sender besser bestellt ist, sie muss lauten: Sind das Versagen und die Unfähigkeit allein dem öffentlich-rechtlichen System anzulasten? Die meisten privatwirtschaftlichen Medien haben genauso versagt und erweisen sich als genauso wenig fähig, dies aufzuarbeiten. Der Markt vermochte es schon gestern nicht zu richten, er wird es auch morgen nicht können.

Nun ist Bashing des ÖRR wohlfeil und vernebelt wie immer das Problem. Ausländerfeinde, Coronaleugner, Impfgegner, Russenversteher, Friedensschwurbler - dass Bashing ein Volkssport geworden ist, verdanken sich die Medien selbst: eine Hydra, die stets neue Probleme schafft und die Politik vor sich hertreibt. Höchste Zeit, damit aufzuhören.

Wir haben gelernt: Tabus und Denkverbote blockieren Veränderungen. Fragen, bei denen wir die Lösungen schon im Kopf haben, auch. Und es wäre keine Lösung, den ÖRR wie lästigen Ballast über Bord zu werfen und den Rest dem freien Spiel der Kräfte zu überlassen. Von Medien, die diese Bezeichnung verdienen, würde am Ende nichts übrig bleiben. Was gleichzeitig das Aus für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung bedeuten dürfte. Die Form, in die das Konzept des öffentlich-rechtlichen Rundfunk nach dem Zweiten Weltkrieg gegossen wurde, hat fraglos gravierende Fehler, die wir dringend korrigieren müssen. Doch jedes noch so gründlich durchdachte System ist am Ende nur so klug wie die Menschen, die damit arbeiten. Auch hier gibt es Nachholbedarf.

Das lässt sich am dominanten Führungsstil zeigen, der bei genauem Hinsehen vor allem auf Kontrolle setzt; darauf, anderen zu sagen, was sie zu tun oder zu lassen haben. Dahinter steckt meistens ein Mangel an Vertrauen und damit ein unausgewogenes Menschenbild. Ein ausgewogenes Verhältnis von Vertrauen und Kontrolle gehört zu einem effizienten Führungsstil und steht für die Fähigkeit, anderen Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. Die Fähigkeit, sich auf Dauer überflüssig zu machen, zeichnet darüber hinaus eine reife Führungspersönlichkeit aus. Diese Kompetenzen sind in den Chefetagen bislang eher selten; ein Bildungsdefizit.

Allein die Führungsriegen des ÖRR auszuwechseln, würde seine Dysfunktionalität nicht beheben. In der geschilderten Weise qualifizierte Führungskräfte fallen weder vom Himmel noch wachsen sie auf Bäumen. Der Ansatz wäre zudem einseitig. Denn - Machtfaktor hin oder her - zu einem paternalistischen Führungsstil gehören immer auch Mitarbeiter, die sich sagen lassen, was sie zu tun oder zu lassen haben. Menschen, die ihren eigenen Fähigkeiten nicht vertrauen, sie vielleicht nicht einmal kennen, sind leicht zu dirigieren. Nun seid Ihr Mitarbeiter im ÖRR qualifiziert, viele von Euch sogar hoch qualifiziert. Insofern ist der Appell, sich nicht länger herumschubsen zu lassen, durchaus berechtigt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie wollt Ihr Euch mit Euren Fähigkeiten zukünftig für unser gesellschaftliches Zusammenleben einsetzen? Was ist mit Eurem Menschenbild? Was ist Eure Vorstellung, wie es mit dem ÖRR weitergehen soll? Wie sieht der Platz aus, den Ihr dort gerne ausfüllen wollt? Wie möchtet Ihr arbeiten? Welchen Führungskräften wollt Ihr Euch anvertrauen und welchen nicht? Nur wer sich derartige Fragen stellt, sollte in so etwas wie einem Zukunftsrat mitreden. Ähnliches gilt für alle, die einen gemeinnützigen selbstverwalteten Rundfunk wollen, über das Lamentieren aber nicht hinauskommen.

Es ist gut zu wissen, wohin die Reise gehen soll, wenn ich mich auf den Weg machen will. Und es ist gut sich zu erinnern, dass der ÖRR - genauso wie unsere Demokratie - nicht allein einer Führungselite gehört, die den Bezug zur Wirklichkeit verloren hat. Nein, er gehört allen Bürgern und damit auch den im ÖRR beschäftigten. Es ist Zeit, dass wir als Bürger an einem Strang ziehen, wenn es uns ernsthaft um Frieden, Freiheit, Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und Demokratie geht. Das erfordert allerdings Eigeninitiative und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen für die eigene kommunikative Kompetenz. Die beginnt damit, unvoreingenommen mit allen in einen Dialog einzutreten, die das wünschen, diesen Dialog aufrecht zu erhalten und die dabei gewonnenen Erkenntnisse tatkräftig umzusetzen.

Auf der Plattform buergerfunk.news finden Profis und Bürgerjournalisten zusammen, um in einem ersten Schritt den ausgetrockneten Lokaljournalismus neu zu beleben. Den Nährboden des Journalismus, das Feld, auf dem die Bürger wieder Vertrauen in die Medien fassen können. Nirgendwo lassen sich Informationen leichter auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen als direkt vor Ort, in der gemeinsamen Lebenswelt von Sendern und Empfängern. Nirgendwo lassen sich journalistische Kompetenzen praxisnäher erproben als im Lokaljournalismus, der noch an Bedeutung gewinnt, wenn die Menschen in Krisenzeiten zusammenrücken.

buergerfunk.news ermöglicht Bürgern - Laien und Profis gleichermaßen - im offenen Austausch und auf Augenhöhe, neue Ideen, Lösungen und Konzepte zu entwickeln und sie gleichzeitig auf ihre Praxistauglichkeit zu prüfen. Kreativität, Individualität, Vielfalt und Experimentierfreude sowie die Bereitschaft, auch mal zu scheitern, sind ausdrücklich erwünscht. In einem Lernumfeld mit Laborcharakter können so Modelle entstehen, richtungweisend für den gemeinnützigen selbstverwalteten Rundfunk von morgen, ein Rundfunk, der allen Bürgern dient.

Jeder, der bereit ist, sich aktiv einzubringen und sich dabei an unserem Codex zu orientieren, ist willkommen, unabhängig von Qualifikationen und Fähigkeiten. Form und Umfang des Engagements bestimmt jeder selbst. Einfach schreiben an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.. Wer sich Führungsverantwortung zutraut, darf es gerne erwähnen. Wir melden uns.


Martin Ruthenberg
(vorläufig Herausgeber)


Anmerkungen und Quellen:
(1) Artikel in der NZZ: https://www.nzz.ch/meinung/der-andere-blick/corona-und-fluechtlingskrise-das-versagen-der-deutschen-medien-ld.1732546
(2) Bericht der Untersuchungskommission: https://www.ndr.de/der_ndr/unternehmen/klimabericht120.pdf
Artikel zum Untersuchungsbericht in der SZ: https://www.sueddeutsche.de/medien/ndr-klimabericht-stephan-reimers-vorwuerfe-1.5777261
(3) SZ-Interview mit dem Ex-Intendanten: https://www.sueddeutsche.de/medien/jobst-plog-ndr-krise-klimabericht-1.5778716
(4) Kommentar des Ex-Chefreporters: https://www.mopo.de/hamburg/meinung/das-zeigt-wie-schlimm-es-um-den-ndr-steht/
(5) MDR-Umfrage:
https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/gesellschaft/mdrfragt-umfrage-medien-100.html
Darstellung des Phönix public domain:
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Phoenix_%281583%29.svg

Redaktion: Gerd Langosch u.a.

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Montag, 06. Mai 2024